Auf der Suche nach der Herzroute
Der Weg ist also das Ziel. Aber was bedeutet das für den Weg? Mit aufgeklappter Landkarte stehe ich an einer Weggabelung und äuge in die Landschaft hinaus. Ich erkenne die Geländekante, die Hecke, die ihr entlang läuft, davor knapp den Feldweg, den ich mir anschauen möchte. Das könnte sie sein, die zukünftige Herzroute. Vielleicht aber auch nicht.
Einmal mehr bin ich unterwegs mit meiner Lieblingsbeschäftigung. Ich suche die Herzroute. Eigentlich habe ich sie bereits gefunden, habe sie auch dokumentiert, aber dann gibt es immer wieder das Gefühl, dass es noch besser gehen könnte; dass der Landschaft noch diese oder jene Zärtlichkeit abzuringen sei. Ein Gefühl, das ich liebe und fürchte, eine Art intimer Jagdtrieb, der aber nicht erlegen, sondern nur ertappen will. So wie heute.
Dienstag Nachmittag im Luzerner Hinterland. Die Herzroute, so ist mir klar, wird irgendwo hier auftauchen. Eine verschmitzte Nebenstrasse lockt mit adrettem Mittelstreifen. Ich winke ab. Nein Baby. Am Wochenende bist du Groupie für die Biker, wie sollen wir da unsere Ruhe finden. Viel eher lockt mich eine Kiesstrasse, die unweit ihre Kurven zieht. Bist du es? Aber auch dieses Stück Weg überzeugt mich nicht. Schweinemästereien haben etwas Unappetitliches, besonders im Kanton Luzern. Ich mag nicht an dreien vorbei fahren. Zwei wären ok gewesen. Bin ich wählerisch? Wenn immer ich kann, ja. Kompromisse sind Gift in jeder guten Handlung. Und die Herzroute ist das Drehbuch tausender individueller Velofahrstories. Sie muss sich treu bleiben, oder dann frech auf Probleme reagieren. Diese Serpentinen am Reusstal: verschmitzt lächle ich. Wer würde die hier vermuten? Sie werden manch erstauntes Gesicht bzw. roten Kopf bewirken. Aber so ist sie halt, die Schweiz: Idyll und Zicke zugleich.
Es ist dieses unerwartet Aussergewöhnliche, das mich immer wieder fasziniert. Nicht das Aussergewöhnliche an sich, sondern sein kleiner, unscheinbarer Bruder. Eine Wegkreuzung, die nur schon von ihrem Gesicht her eine Geschichte erzählt. Ein Halblicht, das auf einen Feldweg einfällt, weil er hinter einen Hecke verläuft. Ein kleines Städtlein, das bei aller Harmonie diesen sonderbar vergangenen Mief verbreitet. Das sind die Szenerien, aus denen gute Geschichten entstehen. Ist es die Gymnastik der Perspektiven, die eine Route so lebendig macht? Ja, aber nicht nur. Es muss eine Melodie hinein, nicht nur eine Aneinanderreihung von interessanten Dingen, sondern eine subtile Dramatik, die sich ankündigt, fesselt und wieder abklingt.
Vor mir steht das Kloster Eschenbach und ich schmunzle. Ja, genau, das passt hierher. Kaum aus dem Unterholz gerollt, blendet der weisse Stein der Neubarockfassade, schwebt gleichsam über meinen sich nach ihr reckenden Hals hinweg, um im nächsten Moment vom Erlebnis des nahenden Waldbächleins samt Wasserfall weggetragen zu werden. Dieses Ineinanderweben von Natur und Kultur ist eine Stärke dieses Landes. Natürlich ist das Verhältnis seit längerem gereizt, und doch scheint es mir legitim, eine Idealisierung vorzunehmen. Man will schliesslich Ferien machen.
Ich klappe die Karte zu und nehme die letzten 12 Kilometer unter die Räder. Ja, hier stimmt sie, die Herzroute. Ich freue mich über die geheimen Ausblicke auf das Reusstal, die Rigi, ja sogar bis hinüber zum Zugersee. Eine einsame Linde wiegt ihre höchsten Zweige locker im Wind. Langsam wird es Abend. Der Tourist wird sich hier dereinst fragen, ob er beim Biohof eine Wurst vom Grill oder im nahen Zug das Sushi für Fr. 60.- pro Person nehmen will. Velofahren schreibt Geschichten.